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MATTHIAS WEGEHAUPT
Malerei
5. April bis 17. Juni 2012
Reihungen
Matthias Wegehaupt
Die Urlauber waren abgereist, der Strand leer, aber ausgerechnet jetzt, spürte er, begann ihn das Figürliche erneut zu interessieren. Immerhin, er fand die Menschen in den zahllosen Skizzen und Zeichnungen wieder, die er vom Steilufer aus gemacht hatte. Blätter des Sommers breitete er auf dem Atelierfußboden aus. Er ging zwischen den Arbeiten auf und ab und nahm mal diese, mal jene Studie zur Hand.
Individuum und Menschenmenge. Diese Frage hatte er wiedergefunden. Es konnte keine rasche bildnerische Antwort geben. Aber so machte er das immer: einfach mit der Arbeit beginnen. Nur dieses Versprechen gab er sich: Hüte dich vor allzu großer Nähe zur Natur. Stattdessen wollte er Zeichen finden, Vokabeln einer neuen Bildsprache.
Spürst du die Intensität, sagte er sich, bist du der Wahrheit auf der Spur? Fragen, immer wieder Fragen. Was z.B.wird aus der Biggyzeichnung, wenn du hundert Biggys gleichzeitig auf dem Blatt hast? Was geschieht bei der Multiplikation von Dingen? Was verwandelt sich? Zeichnend fragen, zeichnend antworten.
Schablonen machen.
Hundert suchende Linien übereinander. Dann aber eine gute Minute nutzen und mit dem scharfen Messer, ohne zu zögern, aus dem Liniengewirr die eine eindeutige Konturschneiden. Nichts darf dich beim Schneiden ablenken. Alle Konzentration auf diese schwingende Linie, die Fläche schafft. Gefundene Gestalt. Schablone, die unzählige Variationen möglich macht. Mit dem Pinsel um die Schablone fahren. Umrißlinien dick und dünn, grob und fein, gepunktet und gestrichelt, sich überlagernd, einander verstärkend oder auslöschend. Wieder Linien, die Flächen schaffen. Flächen,die sich mit Strukturen oder Farben füllen. Farben, die sich ins monochrome Grau bewegen oder zu extremer Stärke steigern. Und in allem immer noch gegenwärtig die Gestalt Mensch.
Biggy und der Musikant vom Sommer vervielfältigten sich auf Bildern. Die Individualität verblaßte. Die Blätter bekamen etwas Militantes, als würden die übermütigen Sommergäste reglos posieren und doch das Marschieren lernen.
Ein Blatt nach dem anderen entstand. Wem konnte er diese Bilder zeigen? Auch in der Stadt würde es keinen Ort mehr dafür geben. In dieser Bildwelt war er allein, aber frei und lebendig. Er vergaß das Heizen, das Essen, das Rasieren. Schlafen irgendwann.
Aber er wußte, er war auf dem rechten Wege. Etwas wurde sichtbar.
Das Bild, der Ort grenzenloser Freiheit. Irgendwann nach Tagen wankte er in den Konsum, alle seine Vorräte waren verbraucht. Die Dicke hinter dem Ladentisch erschrak.
„Ich lass‘ mir einen Bart stehen, das ist alles!“ sagte Unsmoler.
Unsmoler nahm ihr das Messer aus der Hand und schnitt von der harten Wurst ab, bevor er bezahlt hatte. In der Tür erschien wedelnd sein Hund. Er warf dem Hund den Bissen zu. Der Hund fing den Brocken in der Luft. Dann schnitt er ein zweites Stück Wurst ab und steckte es sich selbst in den Mund.
„Waren Sie krank?“ fragte die Verkäuferin perplex.
„Ja“, sprach er mit vollem Mund und lachte, „ich war malkrank!“
„Jeder ist mal krank“, antwortete sie und hob seine Einkäufe in seine Einkaufstasche. Sie war dankbar für diese Erklärung. Alles in Ordnung also.
„Wir wollten schon die Tür aufbrechen lassen . . . zu lang lag die Post unter dem Stein.“
„Die Tür war auf“, sagte Unsmoler, „ich habe gearbeitet,und das ist so, als sei man auf dem Wasser. Man kann mit dem Rudern erst aufhören, wenn man das Ufer erreicht hat. Das Ufer, das sind die Bilder.“
„Sind sie wenigstens schön geworden?“
„Vielleicht gut, das wäre mir wichtiger“, sagte er. Er bezahlte und ging.
Ach ja, die Briefe unter dem Stein.
Er bückte sich. Ihre Schrift. Die Buchstaben riefen ihn in die Realität, seine Hand zitterte. Erst einmal Tee kochen und richtig essen. Der Hund seufzte und legte sich neben den Ofen. Auch die Hundewelt kam wieder in Ordnung. Essen und dann die Briefe. Das Bild der fernen Schönen, das er rufen konnte, wann immer er an sie denken mochte,schaute ihm beim Essen zu. Ihr Brief wartete. Als er satt war, öffnete er den Brief: “Wir müssen miteinander reden. Ich bin sobald wie möglich bei Dir. Ein Kind hat sich auf den Weg gemacht.”
Er ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Sein Leben hatte sich von einem Augenblick zum anderen verändert.
Aus:
Matthias Wegehaupt
Die Insel
Berlin: List Taschenbuch / Ullstein Verlag, 2005
pp 432-434
Mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlages
MATTHIAS WEGEHAUPT
1938
am 20. März in Berlin geboren, aufgewachsen auf der Insel Usedom
1956
Abitur in Greifswald
1956-58
Studium am Institut für Kunsterziehung an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
1959
Tod des Vaters und Lehrers Prof. Herbert Wegehaupt, malend in Ückeritz auf Usedom, Nähe zu Otto Manigk und Prof. Niemeyer-Holstein, Arbeit als Decksmann in der Hochseefischerei
1962-64
Studium an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee
1965
Aufnahme in den Verband Bildender Künstler
1970
Heirat
1971
Geburt der Tochter
1976
Preis und Arbeitsstipendium in Ungarn
1979
Geburt des Sohnes
Vor der Wende Reisen nach Sofia, Moskau,Leningrad, Kiew, Tadshikistan, Budapest und Prag
1990
Mitglied im Künstlerbund MV im BBK
1993
Arbeitsaufenthalt in Paris
1999
Ehrengast der Academia Tedesca Villa Massimo Rom
2005
Im Ullstein Buchverlag erscheint der vor der Wende geschriebene Roman Die Insel
2012
Im Aufbau Verlag erscheint der Roman Schwarzes Schilf
Hauptwohnsitz und Atelier auf der Insel Usedom, jährlich eigene Ausstellungen sowie Beteiligung an Gruppenausstellungen