DENIS PATKOVIĆ
Klassisches Akkordeon
Konzert in der Stadtkirche Goldberg
am 11. August 2012
J.S. Bach (1685-1759)
GOLDBERG-VARIATIONEN
Jukka Tiensuu (*1948)
ERZ
DIE STÜCKE
Bernd Hobe
Es ist, kurz gesagt, Musik, die weder Ende noch Anfang achtet, Musik ohne wirklichen Höhepunkt und ohne wirkliche Auflösung, Musik, die, wie die Liebenden Baudelaires, „sanft ruht auf des ungebundenen Windes Schwingen“.
Glenn Gould über die Goldberg-Variationen
Bachs Goldberg-Variationen wurden im Jahr 1742 veröffentlicht. Der Komponist war zu dieser Zeit 57 Jahre alt und hatte denTitel eines königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hof-komponisten inne. Das Werk entstand für einen Auftrag des Grafen Hermann Carl von Kayserlingk, seinerzeit russischer Gesandter am sächsischen Hof. Der kränkelnde Kayserlingk litt unter Schlaflosigkeit. Sein Cembalist und Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg musste ihm im Nebenzimmer seines Dresdner Hauses die Zeit vertreiben. Hierfür bestellte sich der Graf bei Bach „einige Clavierstücke sanften und munteren Charakters“. Als Honorar erhielt der Komponist 100 Louisdor in einem goldenen Becher. Das Thema, das in den 30 Variationen verändert wird, ist eine Aria, die dem „Clavier-Büchlein“ für Anna Magdalena Bach aus dem Jahr 1725 entstammt. Zur Ausführung ist ein zweimanualiges Cembalo erforderlich, wie Bach es für einige Variationen ausdrücklich vorschreibt. Will man dieGoldberg-Variationen auf dem Klavier spielen, so kommt man nicht umhin, einige Stellen für ein Manual um zu arrangieren. Auf dem zweimanualigen Akkordeon hingegen lassen sich diese Stellen ohne Arrangement bewältigen. Das Variationenwerk lässt sich in zwei Teile einteilen. Der erste besteht aus der Aria und den ersten 15 Variationen; der zweite wird mit einer französischen Ouvertüre eröffnet und besteht aus den restlichen 15 Variationen sowie der „Aria da capo“. Alle Variationen sind auf dem Bassgang der Aria aufgebaut. Jede dritte Variation ist ein Kanon. Vom ersten bis zum neunten Kanon erhöht sich der Imitationsabstand der Stimmen jeweils diatonisch um eine Stufe, das heißt, die Einsätze vergrößern sich von Kanon zu Kanon von der Prime bis zur None. Im ganzen Variationszyklus gibt es nur drei Moll-Variationen. Eine Überraschung stellt die letzte Variation dar. Es ist ein Quodlibet, in das Bach zwei zu seiner Zeit bekannte Volkslieder („Ich bin so lang nit bey dir gwest“ und „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“, was sich wohl inhaltlich auf die lang abwesende Aria bezieht) einbaut, selbstverständlich auch über dem Bassgang der Aria.
Der klassische Bach wird in diesem Konzert mit einem Stück des zeitgenössischen finnischen Komponisten Jukka Tiensuu kombiniert. „Erz“ ist ein zu den Goldberg-Variationen geschriebener, eigener Zyklus, der im Jahr 2006 von Denis Patkovic in Japan uraufgeführt wurde. Patkovic lernte Tiensuu während eines Studienaufenthaltes 2004 in Helsinki kennen. Zum Komponisten ausgebildet wurde Tiensuu an der Sibelius-Akademie in Helsinki bei Paavo Heininen. Weitere Studien und Arbeitsaufenthalte führten ihn an die Musikhochschule Freiburg, wo er von Klaus Huber und Brian Ferneyhough unterrichtet wurde, an die Juilliard School in New York und an das IRCAM in Paris. Im Laufe der Zeit hat er mit vielen Kompositionstechniken experimentiert, wie Mikrointervallik,Serialismus, aber auch Aleatorik, elektronischer Musik, offenen Formen und Improvisation. In einem seiner seltenen Interviews äußerte sich Tiensuu über seine Auffassungen von Avantgarde und experimenteller Musik: „Das was in der Kunst zählt, ist nicht Stil, sondern Inhalt. Die neueste Kunstmusik ist das einzige Musikgenre, welches stilistisch ungebunden ist. Sie kann mittelalterlich oder nach Sibelius, wie Rock, wie ein alter Hit, wie Jazz, wie Volksmusik klingen... oder einfach nur Stille – sogar innerhalb von ein und demselben Werk.“ Oft hat es den Anschein, dass Tiensuu mit jedem neuen Werk eine neue Annäherung an die Herausforderung der Komposition unternimmt. Aus diesem Grund wirkt sein Schaffen nicht als eine homogene Einheit, sondern als Vielfalt von individuellen Aspekten.
Komponieren ist ein kontinuierlicher, „ewiger“ Prozess und die Kompositionen sind nur Happen, die aus diesem Strom herausgelöst wurden.
Jukka Tiensuu
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Bernd Hobe studierte Musikwissenschaft und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth.
BACH IN DIE MODERNE GEHOLT
Horst Kamke
Die „Goldberg Variationen“ – nach den Bildern der gleichnamigen Fotoausstellung lieferte der Verein „Goldbergkunst“ nun auch die Musik. Aber nicht allein das bekannte Bach-Werk und auch nicht als Klavier- oder Orgelkonzert. Vielmehr auf einem klassischen Akkordeon präsentierte Denis Patkovic in der Goldberger Kirche diese Variationen, angereichert und ergänzt durch „Erz“, eine Komposition des Finnen Jukka Tiensuu. Als Doktorvater hatte er in Helsinki den hochbegabten Doktoranden aus Deutschland betreut.
Patkovic widmet sich gern der Interpretation barocker Werke und war von der Idee fasziniert, die Bachschen Variationen als Glanzpunkt barocker Variationskunst auf seinem Akkordeon erklingen zu lassen – eine spieltechnisch immense Herausforderung. Denn: Das Original hatte Bach 1741 als „Clavier Übung“ für ein zweimanualiges Clavicembalo geschrieben.
So wurde das Publikum in der voll besetzten Kirche atemlos staunend zum Ohrenzeugen eines Konzerts, das seinesgleichen weithin suchen muss. Denis Patkovic packt Bach beim Schopfe, ringt mit dessen Komposition, spielt sie ungemein präzise und anrührend zugleich. Dynamisch geht er zu Werke, kraftvoll und zugleich die Möglichkeiten seines Instruments nutzend, Töne zu modulieren, sie weich und zart klingen zu lassen. Dazwischen eingefügt: die 14 Miniaturen der Komposition von Tiensuu. Wer an „Erz“ denkt, stellt sich fast automatisch ein Bergwerk vor, mit Schächten tief unter der Erde. Die Stollen als Bild für eine Seelenlandschaft, in der nach dem Unterbewussten gegraben wird. So lassen sich auch die Komposition des Finnen interpretieren. Er verneigt sich nicht ehrfürchtig vor dem großen Meister. Vielmehr unterminiert er die strenge Struktur der Bachschen Variationen und zersprengt althergebrachte Hörgewohnheiten. Die Fragmente fügt e zu einem neuen, zeitgemäßen Werk zusammen, das Bach modern klingen lässt, flirrend, wild, dissonant.
Bei seinem spannungsreichen Spiel fällt es Denis Patkovic sichtlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Sein Körper arbeitet mit und macht die Musik lebendig. Akkordeon spielt er seit seinem fünften Lebensjahr. Im Herbst sollen die Goldberg Variationen unter seinem eigenen Label neu aufgelegt werden. Außerdem will Patkovic dann mit dem Rundfunkorchester von Radio Bremen auftreten – als Akkordeon-Solist, „um dieses Instrument bekannter zu machen“.
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Horst Kamke ist freier Journalist und lebt in Parchim.
Seine Rezension erschien zuerst in der SCHWERINER VOLKSZEITUNG am 14. August 2012.
DENIS PATKOVIĆ
GOLD MINE VARIATIONS / GOLDBERG -VARIATIONS
DENIS PATKOVIĆ
Denis Patkovic wurde in Calw (Baden-Württemberg) geboren und studierte bei Stefan Hussong an der Hochschule für Musik in Würzburg, bei Matti Rantanen und Jukka Tiensuu an der Sibelius-Akademie in Helsinki und an der Tokyo Geijutsu Daigaku. Als Stipendiat des DAAD beschäftigte er sich in Helsinki unter Anleitung von Jukka Tiensuu mit der Aufführungspraxis barocker Musik. Tiensuu betreut den Akkordeonisten als Künstlerischen Doktoranden an der Sibelius-Akademie. Als Solist gastierte Patkovic in über 20 Ländern; Projekte mit dem Goethe-Institut führten ihn auf verschiedene Kontinente. Die „Süddeutsche Zeitung“ wählte Patkovic’s Einspielung der Goldberg-Variationen kombiniert mit Tiensuus „Erz“ zur „Besten Platte des Jahres 2008“. Im Jahr 2009 wurde Denis Patkovic der Solistenpreis der Europäischen Kulturstiftung verliehen.